Plattformregulierung: Was droht YouTube, Facebook, Amazon & Co. durch die Transparenzregeln des neuen Medienstaatsvertrags?
Das Problem der "filter bubble"
Im Kern dieser Auseinandersetzung, zwischen Förderung der Meinungsvielfalt und Informationspflichten, findet sich das medienwissenschaftliche Konzept der sogenannten „filter bubble“ oder zu gut Deutsch: der Filterblase.
Dahinter steht die Idee, dass die jeweilige Medienform dem Nutzer Inhalte von Dritten zugänglich macht, die der Nutzer sehen möchte. Wegen der Fülle an Inhalten aus einer Vielzahl an Quellen können die Intermediäre aber nicht wahllos alles anzeigen, sondern müssen immer auch eine Selektionsleistung erbringen. Je nach Effizienz der Selektion liegt hierin ein erheblicher Faktor, um sich am Markt durchzusetzen. Insbesondere dort, wo der Nutzer eine Suchmaschine in Anspruch nimmt, wird er sich auch zukünftig für den Anbieter entscheiden, mit dem er am schnellsten die gewünschten Informationen erhält.
Für diese Selektion greifen die Anbieter auf algorithmische Berechnungen zurück, mit denen personalisierte Informationsangebote erstellt werden können. Die Beiträge, die für einen Nutzer wahrscheinlich relevant sind, werden ihm priorisiert angezeigt. Dies ist unter anderem abhängig von den persönlichen Interessen, dem individuellen Nutzerverhalten und dem eigenen Kontaktnetzwerk. Gleichwohl kann der Medienanbieter auch von vornherein Inhalte gezielt nach Thematik benachteiligen oder überhaupt nicht anzeigen.
Darin wird die Gefahr gesehen, dass der Einzelne aufgrund „seiner“ Selektion auch nur noch „seine“ Informationen erhält. Er bekomme nur noch das angezeigt, was seinem ohnehin schon bestehendem Meinungsbild entspreche. Die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen fände nicht mehr statt und führe verstärkt zu einem Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen.
Das Konzept der Filterblase ist jedoch nicht frei von Kritik. Gerade im Hinblick auf die Drastik ihrer Auswirkungen wird darauf hingewiesen, dass die Information und die Meinungsbildung nicht monokausal vonstatten gehe.
Zielsetzung: Transparenz und Meinungsvielfalt
Vor diesem Hintergrund hatte es sich die EU zum Ziel gemacht, die Meinungsvielfalt zu fördern und der Entstehung von „Filterblasen“ bei Nutzern entgegenzuwirken und daher entsprechende Regelungen in ihrer Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, kurz AVMD-Richtlinie, angelegt.
Die Auswahl der Inhalte soll transparent werden, sodass die Nutzer nachvollziehen können, warum sie welche Inhalte angezeigt bekommen. Mit der Ermächtigung des Nutzers, seine Informationsaufbereitung nachzuvollziehen, soll die Meinungsfreiheit gestärkt werden und in der Folge der Medienpluralismus gefördert werden. Diese Richtlinie soll der Medienstaatsvertrag nun umsetzen.
Neue Transparenzpflichten für Medienplattformen und Benutzeroberflächen
Verpflichtet werden zum einen Medienplattformen. Das sind vor allem Plattformen, die audiovisuelle Medien zu einem Gesamtangebot zusammenfassen oder dem Nutzer die unmittelbare Ansteuerung solche Medien ermöglichen. Darunter können lineare TV-Dienste wie Zattoo, aber auch Video-on-demand Angebote, wie iTunes, Netflix oder Amazon Prime Video fallen.
Diese Medienplattformen sollen gemäß § 82 des MStV-Entwurfes
„gewährleisten, dass die eingesetzte Technik ein vielfältiges Angebot ermöglicht“.
Im Vergleich zu beispielsweise dem klassischen privatem Rundfunk erschöpft sich dieses Gewährleistungsgebot aber schon darin, dass für Medienangebote und Meinungen lediglich ein gleicher Zugang zu Medienplattformen gewährleistet sein soll. Die Plattformen sind nicht angehalten, selbst mit eigenen Inhalten zur Meinungsvielfalt beitragen zu müssen. Von diesem Prinzip soll nur abgewichen werden können, wenn ein sachlich gerechtfertigter Grund vorliegt. Welche Anforderungen im Einzelnen an einen solchen Grund gestellt werden, bleibt abzuwarten. Ebenfalls zu beobachten ist, inwiefern die Regelung ein Einfallstor ist, mit der die „Programmautonomie“ einer Plattform beeinträchtigt werden könnte.
Weiterhin wird die Auffindbarkeit von Inhalten in Benutzeroberflächen geregelt (§ 84). Solche Oberflächen ermöglichen eine leichtere Orientierung auf einzelnen oder mehreren Medienplattformen, sodass der Nutzer die Inhalte unproblematisch ansteuern kann. Darunter fallen beispielsweise Programmübersichten einer Mediathek. Auf diesen Oberflächen sollen nunmehr gleichartige Angebote nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund ungleich behandelt werden, insbesondere nicht hinsichtlich ihrer Sortierung und Präsentation. Zulässige Kriterien für die Anordnung können beispielsweise Alphabet, Genre oder Nutzungsreichweite sein. Zudem müssen alle Angebote mittels einer Suchfunktion diskriminierungsfrei auffindbar sein. Es stellt sich die Frage, ob dennoch personalisierte Vorschläge der Plattformen zulässig sind. Beispielsweise könnte die Kategorie „Für dich empfohlen“ auf Netflix auf der Kippe stehen.
Ebenso wurde eine „must be found“- Regelung eingeführt (§ 84 Abs. 3-5). Wird auf einer Benutzeroberfläche Rundfunk vermittelt, sind diese gezwungen, gewisse Angebote des öffentlich-rechtlichen und gegebenenfalls des privaten Rundfunks leicht auffindbar oder sogar unmittelbar erreichbar anzuzeigen. So sollen beispielsweise bei SmartTVs auf der Benutzeroberfläche neben Netflix auch Symbole des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorinstalliert werden.
Neben diesen Regelungen werden Medienplattformen und Benutzeroberflächen außerdem noch ganz explizit zur Transparenz verpflichtet (§ 85). Sie müssen unter anderem
„die Kriterien, nach denen Inhalte sortiert, angeordnet und präsentiert werden“,
transparent machen. Darunter fällt zum Beispiel auch nach welchen Maßgaben eine Empfehlung erfolgt. Diesbezüglich sollen Informationen bereitgestellt werden. Wie umfangreich diese Informationen sein müssen, ist noch nicht absehbar. Im Vergleich zu den Pflichten, die Medienintermediären treffen – dazu sogleich –, sind die Kriterien jedoch wohl weniger umfangreich offenzulegen.
Diskriminierungsfreiheit von journalistischen Inhalten durch Medienintermediäre
Medienintermediäre sehen sich ebenfalls neuen Regelungen zum Schutz der Meinungsvielfalt gegenüber. Darunter sind solche Plattformen zu verstehen, die neben anderen Inhalten auch journalistisch-redaktionelle Angebote aggregieren, selektieren und allgemein zugänglich präsentieren, ohne diese zu einem Gesamtangebot zusammenzufassen. Von den Regelungen werden sie jedoch grundsätzlich nur erfasst, wenn sie tatsächlich oder erwartbar mehr als eine Million Nutzer pro Monat in Deutschland erreichen. Darunter können soziale Netzwerke, wie Facebook oder Twitter, Videoportale wie YouTube, Suchmaschinen aber auch App- und Blogging-Portale fallen.
Neue Informationspflichten sollen die Tätigkeit der Intermediäre transparenter machen (§ 93). Ähnlich der Medienplattformen müssen sie unter anderem über ihre Kriterien,
„die über den Zugang eines Inhalts zu einem Medienintermediär und über den Verbleib entscheiden“,
genauso wie über
„die zentralen Kriterien einer Aggregation, Selektion und Präsentation von Inhalten und ihre Gewichtung einschließlich Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen in verständlicher Sprache“
aufklären.
Zur Sicherung der Meinungsvielfalt ist es ihnen zudem verboten, journalistisch-redaktionell gestaltete Angeboten, auf deren Wahrnehmbarkeit sie besonders hohen Einfluss haben, zu diskriminieren (§ 94). Eine entsprechende Ungleichbehandlung von Angeboten kann vorliegen, wenn von den plattformeigenen Selektionskriterien zulasten eines bestimmten Angebotes abgewichen wird oder diese Kriterien Angebote unmittelbar oder mittelbar unbillig systematisch behindern. Von diesen Kriterien sollen sie daher nur bei Vorliegen eines sachlich gerechtfertigten Grundes abweichen können.
Für den Rechtsanwender wirft dies eine Reihe von Fragen auf: So müsste die Darstellung der Selektionskriterien und ihr Zusammenspiel für den betroffenen Anbieter journalistisch-redaktioneller Inhalte sehr detailliert vonstattengehen, damit der Anbieter eine Ungleichbehandlung überhaupt nachvollziehen kann. Auch die Präzisierung des erforderlichen sachlichen Grundes bleibt abzuwarten.
Protest der Medienkonzerne
Die Neuregelungen stießen bei den Betroffen bereits auf erhebliche Kritik. Im Rahmen der Beteiligungsverfahren zum Medienstaatsvertrag nutzen Branchengrößen wie Google, Facebook, Amazon und viele weitere die Chance, um ihre Sicht auf die Regelungen teils sehr detailliert darzulegen. Diese können daher nur ausschnittweise dargestellt werden.
Häufigster Kritikpunkt sind jedoch die unklaren Begriffsbestimmungen. Vorgebracht wird, dass nicht nur die Abgrenzung zwischen den Regelungssubjekten schwer möglich sei, sondern auch fehlende Definitionen im Gesetz selbst die Rechtsunsicherheit fördern und eine Folgenabschätzung erschweren würden.
Der Zwang einige Inhalte priorisiert anzuzeigen, schränke letztlich die Verbraucher ein, die nicht mehr eigenständig über den von ihnen konsumierten Inhalt entscheiden können würden.
Nutzer griffen gerade auf Intermediäre und Plattformen zurück, weil sie von deren spezifischer Selektion profitieren wollen. Es sei insoweit sogar notwendig, Inhalte ungleich zu behandeln. Die Einflussnahme helfe letztendlich nicht den Nutzern, sondern allein den Seitenbetreibern mit Medieninhalten.
Die Regelungen zur Darstellung von journalistischen Inhalten habe zudem negative Auswirkungen auf die Darstellung der übrigen Inhalte. Müssten Medienberichte angezeigt werden, könnte dem Nutzer gegebenenfalls nicht mehr die von ihm gewünschte, rein faktische Information gezeigt werden. Das eingeführte Diskriminierungsverbot hindere die Betreiber daran, einen personalisierten Service anzubieten.
Fazit
Die geäußerte Kritik der Unternehmen zeigt, dass je nach Branche verschiedenste Problemkreise gesehen werden. Der Rundumschlag des Medienstaatsvertrags kennzeichnet sich daher jetzt schon durch seinen verallgemeinernden Ansatz. Spannend ist, dass die Ministerpräsidenten durch die bisher nicht dagewesenen Informations- und Transparenzpflichten einen großen Schritt in Richtung einer normativen Ausgestaltung der Content-Moderation im Internet gehen wollen. Es bleibt auch abzuwarten, wie dieser Schritt global aufgenommen wird. Müssen Intermediäre ihre Algorithmen erklären, so werden auch andere Gesetzgeber genauer hinschauen.
Auch ob nunmehr Kampf gegen die Filterblase gewonnen ist, wird sich erst in der Zeit nach Inkrafttreten des Medienstaatsvertrags bestimmen lassen und unter Berücksichtigung der Umsetzung der AVMD-Richtlinie durch die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Der Vertrag ist zuvorderst jedenfalls noch den Landtagen zuzuleiten. Außerdem muss er der EU-Kommission vorgelegt werden, welche seine Vereinbarkeit mit europäischem Recht überprüft.
Hinweis: Es gibt einen vorangegangenen Beitrag zu diesem Thema. Vom Rundfunk- zum Medienstaatsvertrag - die wichtigsten Änderungen im Überblick (5.12.2019)
Den Beitrag verfasste Dr. Jonas Kahl, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht bei Spirit Legal, gemeinsam mit Kristiane Kleine, LL.M., Rechtsreferendarin bei Spirit Legal und Franziskus Horn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Spirit Legal.
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